Patienten, die zu oft den Arzt aufsuchen, sollen zur Kasse gebeten werden? Der neue Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Klaus Reinhardt, fordert Selbstbeteiligung der Patienten.
„Bei mehrfachen und völlig unnötigen Arztbesuchen kann eine moderate wirtschaftliche Beteiligung zu einem verantwortungsvolleren Umgang mit unseren knappen Ressourcen im Gesundheitswesen beitragen“, sagte Reinhardt den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
Bevor man solche Forderungen öffentlich macht, sollte man sich zunächst intensive Gedanken machen über die Odyssee von Patientinnen und Patienten, die zwischen den Mühlrädern der Bürokratie oft über Monate hinweg mürbe gemacht werden.
Wenn in einem System etwas nicht einwandfrei funktioniert, steht an erster Stelle immer die genaue Analyse über die Abläufe und Interaktionen der verschiedenen am Prozess beteiligten Protagonisten. Erst dann lässt sich herausfinden, an welcher Stelle und wodurch der Prozess ins Stocken gerät.
Im konkreten Fall der Forderung nach Bestrafung von Patientinnen und Patienten möchte ich eines von vielen Beispielen aus Patientensicht schildern, das aus meiner fast 25-jährigen Erfahrung als Patientenvertreterin für Menschen mit Haarausfall stammt.
Eine Frau im Alter von Mitte 30 leidet an plötzlich auftretendem massivem Haarausfall. Eine Situation, die vor allem deshalb eine große psychische Belastung darstellt, weil offenbar kein erkennbarer Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung erkennbar ist.
Sie wendet sich zunächst an ihren Hausarzt, da sie ihn seit Jahren kennt und schnell einen Termin bekommt. Damit zeigt sie schon gleich zu Beginn die Bereitschaft, eine schnelle Lösung des Problems zu erzielen. Der Allgemeinmediziner verifiziert den übermässigen Haarausfall, verweist bzgl. möglicher Ursachen jedoch an einen Hautarzt.
Die Patientin versucht bei verschiedenen Dermatologen in der näheren Umgebung einen zeitnahen Termin zu bekommen. Leider ohne Erfolg, entweder wegen Aufnahmestopp neuer Patienten im laufenden Quartal oder weil angeblich über 6 Monate oder länger alle Termine ausgebucht sind.
Sie will immer noch eine Lösung. Verständlich, oder?!
Also geht sie zu ihrem Frauenarzt, denn sie hat im Internet mal gelesen, dass die Hormone schuld sein könnten. Aber auch der Gynäkologe kann zunächst keine Auffälligkeiten feststellen.
Die Patientin ist gezwungen, weitere Recherche im Internet zu betreiben. Das tut einerseits ihrer Psyche nicht gut, da sie Horrorszenarien lesen muss, andererseits verstärkt sich der Eindruck, dass niemand ihr helfen kann.
Endlich bekommt sie mit stundenlanger Wartezeit einen Termin bei einem Hautarzt etwas weiter entfernt. Sie muss sich hierfür einen Tag Urlaub nehmen. Dieser ist jedoch in keiner Weise auf Haare spezialisiert, hat menschlich Probleme mit der inzwischen psychisch aufgewühlten Frau. Er führt keine Anamnese durch, schaut sich den Kopf der Patientin nicht an, sondern äußert lediglich die Vermutung, dass es sich wahrscheinlich um erblichen Haarausfall handelt und empfiehlt Minoxidil.
Dies ist nur ein Beispiel aus meinem Erfahrungsbereich, aus welchen Gründen PatientenInnen mehrere Ärzte konsultieren.
Menschen, die sanktioniert werden sollen,
- weil sie eine Lösung für ihre Probleme von ihren Ärzten erwarten und nicht erhalten,
- die nicht verstehen können, warum man ihnen gegenüber keine klare Aussage macht,
- die letztlich mit ihren Problemen nicht nur allein gelassen, sondern auch psychisch aufgerieben werden.
Die Frage, wer in diesem System zu sanktionieren sei, bleibt dem geneigten Leser überlassen!
https://www.wz.de/wirtschaft/haeufiger-arztbesuch-soll-etwas-kosten_aid-39596061